Lachende Frau auf Treppe mit Zeitung in der Hand

Wie man lernt, einander auszuhalten

Bassum

Gepolsterte, quietschgelbe Wände, kein Fenster. Eingesperrt. Kein persönlicher Kontakt nach außen. Nur zum Pflegepersonal. So werden psychiatrische Kliniken häufig dargestellt. Dass dies aber ein reiner Irrglaube ist, erklären die Chefärzte vom Zentrum für seelische Gesundheit in Bassum.

Bassum
– Jeder Patient der psychosomatischen Klinik hat sein eigenes Zimmer. Das sagt Stefan Renner, Facharzt für Psychiatrie,Psychotherapie und Psychosomatische Medizin als zuständiger Chefarzt. „Die sind sogar ganz wohnlich“, meint er über die Ausstattung von Bett, Nasszelle und Fenster. Der persönliche Touch folgt in Form von Fotos, Dekoration und eigener Bettwäsche. Auf einen Fernseher im Zimmer verzichtet die Klinik bewusst.„Rückzugsverhalten möchten wir nicht fördern. Wir wollen das Gruppengefühl stärken“, erzählt Renner. Deswegen gibt es auch einen Aufenthaltsraum, wo die Patienten zusammen essen können. In einem Kühlschrank haben sie ein Fach, um selbst beschaffte Lebensmittel getrennt lagern zu können.
20 Patienten können zu normalen Zeiten in den Einzelzimmern der psychosomatischen Abteilung leben. Aufgrund der Corona-Pandemie seien es im Moment zehn Patienten, die dort sechs bis zehn Wochen stationär behandelt werden. Manche kommen sofortin die Abteilung, andere werden eventuell erst notfallmäßig in derAbteilung für Psychiatrie aufgenommen und später verlegt. BevorPatienten überhaupt erst in einer Klinik aufgenommen werden, müssen sie den Weg dorthin oft selbst wählen. Über welche Umwege das funktioniere, sei laut Renner individuell.
In manchen Fällen würde es auf Anraten des ambulant behandelnden Therapeuten oder auf Empfehlung von Freunden passieren. Manche finden den Weg auf eigene Faust. „Hausärzte sind wacher geworden und erkennen die Symptome früher“, erklärt Renner, wozu unter anderem Antriebslosigkeit, Schlafstörungen,gedrückte Stimmung oder ständige Verspannungen in Rücken und Schultern zählen. Manche Patienten seien schon mehrere Monate krankgeschrieben, bevor sie eine Therapie machen. 

Auch die Akzeptanz sowohl von Patienten als auch Arbeitgebern habe laut Renner zugenommen. Der erste Schritt sei getan, wenn Patienten vor ihm sitzen und einfach anfangen, über ihre Probleme zu sprechen. In diesem Gespräch müsse er schauen, in welcher Abteilung der Patient am besten aufgehoben wäre. Menschen mit zum Beispiel Angststörungen oder Burn-out ordne er der psychosomatischen Abteilung zu. „Dort behandeln wir Krankheiten,deren Behandlung planbarer ist“, erklärt er. Wohingegen Menschen mit suizidalen Gedanken oder Alkoholproblemen in der Psychiatrie– oder vorerst in einer Entzugsklinik – Behandlungsangebote finden.„In der Psychiatrie behandeln wir oft akut ausgeprägtere Krankheitsbilder.“
Um auf der psychosomatischen Station aufgenommen zu werden, erklärt Renner, müssen die Patienten gruppenfähig sein. „Die Patienten müssen andere Menschen aushalten können. Es geht um Reden und Zuhören“, so der Mediziner weiter. Im Prinzip seien das Menschen „wie du und ich – nur mit Zwangsstörungen“. In der Gruppenarbeit sehe er für diese Patienten eine Chance. In etwa 20 Wochenstunden sind Gespräche, Kunsttherapie sowie Achtsamkeits- und Entspannungstherapien untergebracht, die helfen sollen, sich selbst zu reflektieren und Kritik anderer auszuhalten. „Man bringt sich ebenso als Mensch mit, wie man sich auch zu Hause oder auf der Arbeit als Mensch zeigt.“
Auf die Anregung von Mitpatienten und Therapeuten aufbauend, würden viele anfangen, sich Fragen zu ihrem Verhalten zu stellen und erleben dadurch eine positive Gruppenerfahrung – auch wennes vorher vielleicht noch nicht der Fall war. Die Ursachen seien ganzvielfältig und reichen von Mobbing in der Schule oder Problemenam Arbeitsplatz bis hin zu Persönlichkeiten, die sich in der Gruppeeinfach hinten anstellen und ihre Meinung nicht kundtun. „Aha, sokann Gruppe gehen“, zitiert Renner die Gedanken von Patienten, aufdie letzterer Hintergrund zutrifft.
20 Therapie-Wochenstunden seien laut Renner die Obergrenze.„Mehr geht nicht. Man braucht auch Zeit zum Verarbeiten“, erklärtder Experte. Achtsamkeitstraining sei zum Beispiel ein Thema, das nicht funktioniert, wenn die Patienten überfordert sind. Also gibt es auch therapiefreie Zeit, in der sie – außerhalb der Klinik – Eis essen, draußen Sport machen oder Freunde treffen können. Pro Ausgang hätten die Patienten zwei bis drei Stunden Zeit. Alles darüber hinaus müsse vom Arzt „verordnet“ werden. Die Klinik verfügt über einen Raum mit Fitnessgeräten und bietet Nordic Walking an. Eine Kooperation mit einem örtlichen Fitnessstudio gebe es ebenfalls.Dort bekommen die Patienten Rabatt. Um etwas impulsivere Gefühle freizusetzen, bietet die Klinik therapeutisches Boxen und Tonwerfen an. Letztendlich soll der Aufenthalt in der psychosomatischen Abteilung so alltäglich sein wie möglich. DiePatienten können dort zum Beispiel auch ihre Wäsche waschen oder zusammen kochen – zumindest konnten sie das vor Beginn der Corona-Pandemie.
Über den stationären Aufenthalt in der psychosomatischen Klinik hinaus „geht der Prozess weiter“, meint Renner. Die Patienten würden viel aus der Therapie in ihr gewohntes Umfeld mitnehmen. Aber auch kurz vor Verlassen der Klinik können zum Beispiel Angst-Patienten ihre erlernte Selbstsicherheit üben und allein einkaufen gehen.

Zurück im Alltag können Patienten eine ambulante Therapie in Anspruch nehmen, sofern es nötig ist. Viele Arbeitgeber würden die Möglichkeit gewähren, an einem Wiedereingliederungsverfahren teilzunehmen. „Die Patienten sollen versuchen, möglichst viel selbstständig zu regeln“, sagt Renner. Sollte es aber mal einen Arbeitgeber geben, der sich nicht auf Kompromisse einließe, könned er Sozialdienst bei der Vermittlung helfen.
Nicht immer sei es mit einem stationären Aufenthalt getan.„Manche Patienten kommen zwei oder dreimal her. Psychische Krankheiten sind immer individuell zu betrachten“, sagt er. „Die Patienten müssen lernen, wie sie angemessen mit sich umgehen und wo ihre Grenzen sind.“

 

 

Artikel erschienen in der kreiszeitung am Dienstag den 22. September 2020, von Lisa-Marie Rumann
 

In der Psychosomatik des Zentrums für seelische Gesundheit in Bassum sind Menschen mit Krankheiten, deren Behandlung planbarer ist, zu Hause. Foto: Lisa-Marie Rumann

Menschen müssen andere Menschen aushalten. Und sie müssen reden und zuhören. Im Aufenthaltsraum können die Patienten zusammen essen. Foto: Lisa-Marie Rumann

n der Psychiatrie – Station 1 – kommen Patienten mit akuten Erkrankungen unter. Foto: Lisa-Marie Rumann

Eher dunkel, aber effektiv gegen negative Gefühle, soll die Tonwurfwand sein . Foto: Lisa-Marie Rumann

Großzügig und hell: Ein Aufenthaltsraum in der psychosomatischen Abteilung . Foto: Lisa-Marie Rumann