Lachende Frau auf Treppe mit Zeitung in der Hand

Corona - Zeit zum Reflektieren - INTERVIEW - Dr. Gerd-Christian Kampen über die Folgen sozialer Isolation

Bassum

Bassum – Corona hat unser aller Alltag verändert. Gerade das soziale Leben ist auf ein Minimum heruntergefahren. Nun kehrt die Normalität Stück für Stück zurück. Gerd-Christian Kampen ist Chefarzt am Zentrum für seelische Gesundheit in Bassum und spricht mit uns über die Folgen der sozialen Isolation und mögliche Erkenntnisse. Die Fragen stellte Lisa-Marie Rumann.

Herr Kampen, wie wirkt sich die coronabedingte soziale Isolation aufuns Menschen generell aus?

Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Vorweg muss man Menschen in unterschiedlichen Gruppen betrachten. Die Isolationwirkt sich sehr unterschiedlich aus.

Wie ist es denn am Beispiel der älteren Generation?

Für viele 65- bis 80-Jährige ist die Isolation ein erheblicher Stress. Während sie unter normalen Umständen ihre Familien im Alltag entlasten, indem sie zum Beispiel die Enkelkinder betreuen, werden sie nun aus ihrer sozialen Funktion herausgezogen. Auch sind Menschen in dem Alter häufiger in Vereinen aktiv, die ihre Aktivitäten einstellen mussten. Das war alles mit einem Schlag weg. Dieser Altersgruppe wurden wichtige Teile eines sinnstiftenden Alltags geraubt.

Wie sieht wohl die Gefühlswelt dieser Gruppe aus?

Viele machen sich Sorgen. Ganz plötzlich sind sie in eine potenziell gefährdete Subgruppe eingeteilt worden. Sicher fragen sie sich, wie mit ihnen umgegangen wird, und ob sie mehr isoliert werden, als
ihnen lieb ist. Die Isolation stellt sich als eine potenziell bedrohliche Situation für sie dar.

Wie verhält es sich mit der Generation über 80 Jahren?

Für sie bedeutet es doppelten Stress. Sie sind häufig auf soziale Hilfen angewiesen und erleben eine massive Unterbrechung des Kontakts zu ihren Liebsten. Gleichzeitig werden sie entmündigt. Die Entscheidung, ob sie einkaufen gehen oder wann sie Familie und Freunde sehen, wird ihnen abgenommen.

Was ist die Konsequenz der sozialen Isolation?

In erster Linie sind es Stress und Streit. Das passiert oft ganz automatisch, weil wir aus einem Leben mit mehreren Beziehungen zu unterschiedlichen Menschen nun in eine Kleingruppe hinein isoliert werden – meistens die Familie. In Einzelfällen kommt es vermehrt zu häuslicher Gewalt. Gefühlsmäßig kann sich die Isolation in depressiven Verstimmungen aufgrund von mangelnder Selbstwirksamkeit äußern. Viele sind frustriert, ungnädig, aggressiver und erleben vielleicht sogar ein Ohnmachtsgefühl.

Was passiert mit Menschen, die schon vor der Corona-Krise psychisch labil gewesen sind?

Bei dieser Gruppe lässt sich in einigen Fällen sogar eine positive Erkenntnis aus der Isolation schöpfen. Am Beispiel von Autisten oder Menschen mit Angststörungen lässt sich das gut verdeutlichen: Meistens leben sie sowieso schon auf Abstand zu ihren Mitmenschen. Weil das nun alle anderen auch tun, befinden sie sich in ihrer Situation nun mehr in der „Normalität“.

Kann die Isolation einen Stein ins Rollen bringen?

Was die Krise tatsächlich auslöst, muss noch mittels Studien erforscht werden. Allerdings ist es so, dass Menschen – unabhängig von psychischen Vorbelastungen – durch Stress krank werden können. Dadurch kann es über soziale und ökonomische Existenzbedrohungen zu Angstreaktionen kommen, die in Einzelfällen einen Suizid auslösen können.

Lassen sich generell positive Dinge oder Erkenntnisse aus der Krise gewinnen?

Natürlich. Es fängt damit an, dass wir von äußeren Einflüssen nicht mehr so doll abgelenkt werden. Es bleibt durch die Isolation viel Zeit zum Strukturieren seiner verfügbaren Zeit und man kann Dinge tun, die im normalen Alltag zu kurz kommen. Das können Dinge sein wie Bücher lesen, Fotos sortieren oder Kontakt zu Freunden aufnehmen, die vielleicht schon in Vergessenheit geraten sind. Alles, was eben zum seelischen Wohlbefinden beiträgt. Man kann sehr wohl konstruktive Sachen tun, um mit der Krise klar zu kommen. Bei Eltern zum Beispiel ist ihre Kreativität gefragt, damit ihre Kinder nicht nur vor dem Fernseher hängen.

Freunde in Vergessenheit ist ein gutes Stichwort. Lassen sich Freundschaften durch die Isolation neu bewerten?

Es ist auf jeden Fall eine gute Zeit zum Reflektieren sowohl positiv als auch negativ. Eine pauschale Antwort gibt es hier nicht, aber Hinweise die auf eine individuelle Antwort schließen lassen. Möglicherweise ist man ruhiger oder schläft besser, weil man weniger Kontakt zu bestimmten Menschen hat.

Wie lautet denn ihre ganz persönliche Erkenntnis aus der Isolation?

Puh, das ist schwer (lacht). Ich habe mir auf jeden Fall mehr Struktur gegeben. Ich kann mir besser einteilen, wann ich welchen Sport mache und wann ich welches Buch lese. Mein Alltag hat mehr Ordnung bekommen.

Am Anfang haben wir schon über die Auswirkungen von sozialer Isolation bei Senioren gesprochen. Welche Folgen können denn für Kinder entstehen?

Fakt ist, das Kinder auf körperliche und direkte Nähe angewiesen sind. Im Säuglingsalter sind die Eltern ihre Bezugspersonen. Mit zunehmendem Alter sollten sie jedoch mehrere haben. Ob sich aus dem Defizit eine langfristige Folge entwickeln kann, ist noch höchst spekulativ. Warum genau brauchen Kinder mit zunehmendem Alter mehr Bezugspersonen? Unter anderem um sich in eine Vielfalt hinein entwickeln zu können,
die über den engeren familiären Bezugsrahmen hinausgeht. Das Zentrum für seelische Gesundheit in Bassum hilft seinen Patienten unter anderem beim Strukturieren ihrer Tagesabläufe.

Welche Alternativen gab es im Rahmen der coronabedingten Schließung für die Patienten?

Unser Personal hat sich mit etlichen Patienten zu coronasicheren Spaziergängen verabredet und regelmäßig mit ihnen telefoniert. Für chronisch psychisch kranke Patienten war die Zeit besonders schwer. Meistens arbeiten sie in Werkstätten oder Cafés. Durch die Schließung konnten sie dem Gewohnten nicht mehr nachgehen. 

Die psychiatrische Tagesklinik in Twistringen hat seit etwa vier Wochen wieder geöffnet. Wie sieht der neue Corona-Alltag dort nun aus?


Wir haben dort große Räume, in denen wir nun weniger Patienten betreuen. Während es vorher täglich 16 Patienten waren, sind es jetzt nur noch zehn. Wir haben also insgesamt mehr Zeit für sie. Die psychosomatische Abteilung in Bassum wird im August und die Tagesklinik in Diepholz im September wieder eröffnen.

 

Artikel erschienen in der Kreiszeitung am Montag, 13. Juli 2020 im Diepholzer Kreisblatt, von Lisa-Marie Rumann